Eine Feierstunde zur Rückkehr des “historischen” Archivs

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Am 7. Juni 2018 fand in der his­torischen “Trinkstube” der Apotheke von Zieglauer in Bru­neck eine Feier­stunde aus Anlass der Rück­führung des “älteren” Teils des his­torischen Archivs vom Südtirol­er Lan­desarchiv in das Stadtarchiv Bru­neck statt. Bei dieser Gele­gen­heit wur­den in ein­er Vit­rine einige Zimelien aus­gestellt, darunter das älteste Stück aus dem Stadtarchiv, eine Urkunde aus dem Jahr 1319.

Auf die Begrüßung durch den Bürg­er­meis­ter Roland Griess­mair fol­gend führte Stadtarchivar Andreas Ober­hofer in die wech­sel­hafte Geschichte der Stadt und ihres Archivs ein. Dieser Vor­trag sei hier im Wort­laut wiedergegeben:

Am kom­menden Sam­stag, dem 9. Juni, ist der Inter­na­tionale Tag der Archive. Er erin­nert an die Grün­dung des Inter­na­tionalen Archivrats unter der Schirmherrschaft der Unesco im Jahr 1948. Die Gele­gen­heit, die uns heute hier hat zusam­menkom­men lassen, ist aber eine andere: Wir feiern die Rück­kehr des his­torischen Archivs der Stadt Bru­neck. Dazu haben wir uns in einem Raum getrof­fen, der ger­adezu als geronnene Geschichte der Stadt in der frühen Neuzeit inter­pretiert wer­den kön­nte. Die älteren Bestände des Stadtarchivs, die vor nun­mehr fast einem Monat aus dem Südtirol­er Lan­desarchiv in Bozen nach Bru­neck trans­portiert wur­den, doku­men­tieren die Zeit zwis­chen dem begin­nen­den 14. und der Mitte des 19. Jahrhun­derts, also jene Epochen, welche die Stadt geprägt und definiert haben. Der Beginn der Schriftlichkeit fällt in etwa mit dem abgeschlosse­nen Aus­bau der mit­te­lal­ter­lichen Kern­stadt zusam­men, die sich anschick­te zu einem Zen­trum von Verkehr, Han­del und Handw­erk im Puster­tal zu wer­den – immer im Schat­ten der Burg, die über Jahrhun­derte den Ein­fluss und zugle­ich auch den Schutz des Fürst­bischofs von Brix­en über seine Grün­dung sym­bol­isierte. Bru­neck war die Heimat­stadt Michael Pach­ers, König Max­i­m­il­ian war eben­so zu Gast wie Erzher­zo­gin Maria There­sia, in der Ober­stadt siedelte sich der Adel an und mit den Kapuzin­ern und Ursu­li­nen ließen sich Klosterge­mein­schaften nieder, die den städtis­chen All­t­ag bere­icherten. Das Leben pulsierte im Städtchen an der Rienz und der Trubel mag in manchen Momenten mit heuti­gen Fer­ragos­to- und anderen Einkauf­sev­ents ver­gle­ich­bar gewe­sen sein. In der Stadt waren Hüh­n­erge­gack­er, Kindergeschrei und Schweine­grun­zen zu hören, Wagen­räder und Hufge­trap­pel auf Pflaster­steinen, Gesang und das Geläut der Glock­en prägten die Akustik anson­sten rel­a­tiv ruhiger Epochen, in denen die Erfind­ung des Ver­bren­nungsmo­tors noch in weit­er Ferne lag. Der Umgang des Nach­wächters set­zte dem geschäfti­gen Treiben jeden Abend ein Ende, die Stadt­tore wur­den geschlossen, die Sperrstun­den der Wirtshäuser, die streng kon­trol­liert wur­den, tat­en ihr übriges, damit endgültig Ruhe einkehrte und bis zum Krähen der Hähne am Mor­gen und dem Glock­en­läuten zur Frühmesse nur das Rauschen der Rienz zu hören war.

Blick in das Archivde­pot: Die Rei­he der Rats- bzw. Stadt­mag­is­trats- und Gemein­deauss­chuss-Pro­tokolle ist wieder kom­plett. Foto: Stadtarchiv Bru­neck.

Das his­torische Archiv spiegelt all das wieder und noch viel mehr, beim Lesen in den alten Papieren und Perga­menten erste­ht die Welt des Mit­te­lal­ters und der frühen Neuzeit wieder auf und nicht zulet­zt auch die Welt und das All­t­agsleben der Per­so­n­en, die sich hier, in diesem Raum in diesem Haus im drit­ten Vier­tel der Stadt, mit ihren Wap­pen und Devisen verewigen haben lassen. “Ein Schbarz kue gibt wys[s] milch” hat der Kün­stler an ein­er Stelle an die Wand gepin­selt, “AMOR EST VERBVM PASSIVVM” an eine andere. Wenn wir also glauben, dass wir die Men­schen, die damals gelebt haben, ver­ste­hen kön­nen, dass wir ihnen durch das Studi­um ihrer Geschichte nahe kom­men, so gibt es doch immer Dinge, die wir nicht ver­ste­hen, zu groß ist dann doch wieder der zeitliche Abstand von mehreren Jahrhun­derten. Keinen Reim machen kön­nen wir uns auf vieles, wie es auch Jakob Jöchl durch seine Devise indi­rekt zugibt: “Jch hab kain Reim”. Wir malen uns aus, wie es war, gewe­sen sein kön­nte, und doch ist diese Welt von uns gle­ich weit ent­fer­nt wie ein fremder Plan­et, den wir nie betreten wer­den kön­nen. Das Archiv aber bietet wie auch dieser Raum die Möglichkeit, zumin­d­est ganz nah dran zu sein an dem, was wir „früher“ oder „damals“ nen­nen. Es ist nicht eine ver­schwommene Ahnung, es ist authen­tisch, konkret und real, es beste­ht aus Papierblät­tern und Perga­menten, die mit Namen und Dat­en beschrieben sind, die wenig Zweifel zulassen, sofern man sie zu deuten ver­mag. Sie warten auf ihre Erforschung, auf ihre Bear­beitung, und genau deshalb hat sich die Stadt­ge­meinde bemüht, sie nach ca. 80 Jahren wieder nach Bru­neck zu brin­gen, um sie in erster Lin­ie den Bru­neck­erin­nen und Bru­neck­ern zum Studi­um und zum Erken­nen ihrer Geschichtlichkeit und Geschichte zur Ver­fü­gung zu stellen.

Bru­neck ist eine mit­te­lal­ter­liche Stadt, gegrün­det durch den Bischof als Boll­w­erk, als Fes­tung, aber eben als Stadt und Gegen­mod­ell zum benach­barten Markt St. Loren­zen, der niemals Stadt wer­den durfte. Bere­its in der zusam­men­hän­gen­den Vertei­di­gungsan­lage aus Stadt­mauer, Wehrtür­men und Burg zeigt sich die mit­te­lal­ter­liche Konzip­ierung, aber auch in den aus Steinen gemauerten Kellern unter den Häuserzeilen der Stadt­gasse, den Brun­nen, den Kirchen, dem alten Spi­tal, deren Grün­dung in das 14. oder gar 13. Jahrhun­dert zurück­re­icht. Durch die enge Stadt­gasse, die als einzige unter den Südtirol­er Städten keine Laubengänge aufweist, rollte ein großer Teil des Verkehrs zwis­chen den Han­delsstädten im süd­deutschen Raum und jenen an der Adria. Hier fluchte manch ein Fuhrmann, als er seine Waren am Ballplatz in der Unter­stadt abladen, zur Beschau präsen­tieren und wieder aufladen musste. Ein Rit­u­al, das sich an vie­len anderen Orten an sein­er Route wieder­holte und sich mit der Zahlung von Zöllen abwech­selte. Die Wirtschaft brummte in Bru­neck, der Loren­z­i­markt war ein fix­er Bestandteil der Ereignisse im Jahres­lauf, die auch die Men­schen aus der Umge­bung in die Stadt lock­ten, wo sie ihr müh­sam Erspartes loswer­den kon­nten. Der Berg­bau im Ahrn­tal tat sein Übriges, Inter­na­tion­al­ität in das Puster­tal zu brin­gen. Knap­pen, Ver­wal­ter und Hil­f­sar­beit­er, die bisweilen auch “Lutherische” sein kon­nten, kamen sog­ar aus Nord­deutsch­land und den Nieder­lan­den nach Pret­tau, um direkt am Berg ihr Glück zu ver­suchen, oder aber in der Kraffter­ischen Mess­inghütte in Ste­gen zu arbeit­en, ein­er Man­u­fak­tur, die zeitweilig bis zu 80 Män­ner beschäftigte. Das alles wis­sen wir, weil es aufgeschrieben wurde, weil es Teil des Archivs gewor­den ist. Wäre es nicht aufgeschrieben wor­den, wäre es längst vergessen. Ein Archiv ist das Gedächt­nis der Stadt, der Talschaft, der Region, des Lan­des.

Wenn wir von der “Trinkstube” aus über die Stadt­gasse gehen, ste­hen wir vor zwei ehe­ma­li­gen Rathäusern, in denen die Schriftlichkeit zum Großteil ent­standen ist. Das erste war bis 1564 Gerichts- und Rathaus, das zweite diente bis 1799 bzw. 1802 als Rathaus. In unmit­tel­bar­er Nähe des Amt­shaus­es des bis­chöflichen Stadthaupt­mannes und des Amt­shaus­es des Klosters Neustift wur­den Beschlüsse pro­tokol­liert, Bittschriften gele­sen, Urteile gesprochen und Bürg­er­rechte ver­liehen. Dass einige der Rat­sher­rn nach den Ratssitzun­gen in unsere Rich­tung über die Straße gekom­men sind, um im Wirtshaus an der Luck­en, das etwa zehn Meter von hier ent­fer­nt direkt an das Flo­ri­an­i­tor anschloss, oder in einem anderen der Bru­neck­er Gasthäuser mit anderen Amt­sleuten, Gerichts- und Stadt­di­enern, der Geistlichkeit, den Schul­hal­tern oder aber mit dem gemeinen Volk einen oder zwei Bech­er zu leeren, darf angenom­men wer­den. Der eine oder andere hat seinen Weg auch in diese Stube gefun­den, wo sich eine elitäre Schicht von Stadt­bürg­er­tum, städtis­chem und ländlichem Adel traf, um nicht nur einzelne Bech­er, son­dern mitunter auch ganze Fäss­er zu leeren, wie uns das Wap­pen des Jörg Grin­bald bzw. Grün­wald recht anschaulich vor Augen führt.

Wap­pen des Jörg Grin­bald (Grün­wald) in der “Trinkstube”. Foto: Nadia Pich­ler.

In diesem Raum find­en wir die Momen­tauf­nahme ein­er Runde von Män­nern fest­ge­hal­ten, die sich im Jahr 1526 oder später verewigt hat, um Geschlossen­heit und Zusam­menge­hörigkeit zum Aus­druck zu brin­gen. Wir kön­nen die Anwe­sen­heit ger­ade jen­er Men­schen im Dienst der Stadt, des Fürst­bischofs von Brix­en oder des Lan­des­fürsten spüren, die Schriftlichkeit pro­duziert haben, eben die Schriftlichkeit, die sorgfältig in Archivräu­men – seien es Keller, Gewölbe, Dachbö­den oder eigens gebaute feuer­sichere Räume – ver­wahrt wurde, auf­grund dieser Sorgfalt erhal­ten geblieben ist und mitunter Ein­blick in die Geschichte der Stadt Bru­neck vor nicht weniger als 700 Jahren bietet. Sie legten Wert darauf, dass alles seine Ord­nung hat­te, dass jede Lade die richti­gen Doku­mente enthielt, dass Hochwass­er und Feuerge­fahr dem im Laufe von Jahrzehn­ten und Jahrhun­derten entste­hen­den Archiv keinen Schaden zufü­gen kon­nten, dass Rat­ten, Mäuse, Würmer und anderes Geti­er, das sich mitunter auch von Perga­ment und Papi­er ernährt, möglichst wenig Chan­cen hat­te, das Archiv zu fressen. Sie legten Wert darauf, dass Schriftlichkeit auch schön sein sollte, dass in ein­er ansprechen­den Gestal­tung zum Aus­druck kom­men sollte, dass es sich um Wertvolles und Einzi­gar­tiges han­delt.

Kalligraphisch gestal­teter Ein­band eines Urbars von Stadt­spi­tal, Spitalkirche zum Heili­gen Geist und Liebfrauenkirche in Bru­neck, 1625. Foto: Stadtarchiv Bru­neck.

Wie sich die in diesem Raum Erwäh­n­ten bildlich verewigt wis­sen woll­ten, legten sie nicht zulet­zt auch Wert darauf, dass sie in Wort und Schrift ihre Spuren hin­ter­lassen und nicht vergessen wer­den wür­den. Im Rat­spro­tokoll von 1530–1535 hin­ter­ließ der Schreiber den demüti­gen Spruch: “Spero dum spiro. Mea spes est uni­ca Chris­tus. Cui me con­men­do, dedi­co, sub­ji­cio”. Allein das Vorhan­den­sein dieses Leit­satzes und des in Erschei­n­ung tre­tenden Schreibers spricht für das neue selb­st­be­wusste Men­schen­bild des Human­is­mus. Auch Johann Tin­khauser schrieb in seinen Anfang des 19. Jahrhun­derts ent­stande­nen Manuskripten zwar immer Gott Ehre und Lob zu (“Laus Deo Sem­per”), ver­gaß aber dabei nicht, auch seine eige­nen Leis­tun­gen zu loben und sich gewis­ser­maßen in das kollek­tive Gedächt­nis der Stadt einzuschreiben. Nicht nur in einem Pro­tokoll­buch des Stad­trates hat er sich promi­nent verewigt: “Durch­le­sen im Jan­u­ar 1823. Johann Tin­khauser derzeit Bürg­er­meis­ter”. “Ver­gis mein nit” war die Devise des Hanns von Rost, “Vive mem­or nos­tri” deuten wohl die drei Buch­staben “V.M.N.” an, die Jochum Kraus über sein Wap­pen in der “Trinkstube” malen ließ. Es ist ger­adezu eine Urangst des Men­schen, in der Masse zu versinken und vergessen zu wer­den.

Noch eine Par­al­lele zwis­chen dieser “Trinkstube” und der städtis­chen Schriftlichkeit fällt auf: Wie die Gruppe, die sich hier offen­bar traf, klein und elitär war, wie auch der Raum “klein aber fein” ist, war es auch eine kleine und feine Gruppe, die bis weit in das 19. Jahrhun­dert hinein Anteil an der Schriftlichkeit hat­te. Bil­dung war, auch wenn Bru­neck über eine deutsche und lateinis­che Schule ver­fügte, ein elitäres Gut, das sich auf Adel und Geistlichkeit und zunehmend auch auf das Bürg­er­tum beschränk­te. Inwohner/innen und Inge­häusen, arme Handw­erk­er und Vagierende, aber auch die große Menge der in der Land­wirtschaft arbei­t­en­den Bauern, Dien­st­botin­nen und Dien­st­boten hat­ten wie zu dieser Stube auch zur Schriftlichkeit keinen Zugang. Den­noch gibt das Stadtarchiv auch über sie Auskun­ft. Sie kon­nten zwar nicht schreiben, es wurde aber über sie geschrieben, vor allem dann, wenn es darum ging, von ihrer Arbeits- und Wirtschaft­sleis­tung zu prof­i­tieren, Steuern und andere Abgaben einzuheben oder sie für den Kriegs­di­enst zu verpflicht­en. In dieser Hin­sicht bietet das Archiv einen großen Mehrw­ert gegenüber einem elitären Bild­pro­gramm, wie wir es hier vorfind­en: im Gegen­satz zur “Trinkstube”, die nur eine gehobene Klasse wieder­spiegelt, die stolz ihre Wap­pen zur Schau stellte und sich durch die Exk­lu­siv­ität ihres Zirkels in sozialer Hin­sicht nach unten und vielle­icht in räum­lich­er Hin­sicht nach außen – zur Stadt­gasse hin – abgren­zen wollte, find­en im Archiv auch die son­st Stimm- und oft sog­ar Namen­losen Nieder­schlag, die vielle­icht in der Stadt­gasse am Boden saßen und um Almosen bet­tel­ten.

Das städtis­che Archiv wurde in Bru­neck – gemein­sam mit der gesamten Ver­wal­tung – immer wieder über­siedelt; in der Stadt gab es bis heute nicht weniger als sieben Rathäuser, die mal länger, mal weniger lang genutzt wur­den. Aus dem Strehle- oder Meus­burg­er­haus wurde die Kan­zlei samt Reg­i­s­tratur in das Waibl- oder Har­rasser­haus gebracht, danach in das Schön­hu­ber­haus, danach in das ehe­ma­lige Amt­shaus des Klosters Neustift, das heute Sitz der Uni­ver­sität ist. Wir kreisen — inner­halb der mit­te­lal­ter­lichen Kern­stadt — um unsere “Trinkstube”. Inter­essierten standen die städtis­chen Schriften zumin­d­est ab dem 19. Jahrhun­dert zum Studi­um zur Ver­fü­gung. Johann Tin­khauser hat, wie bere­its erwäh­nt, die Rat­spro­tokolle gele­sen und sich entsprechend in den Büch­ern, deren Bindung vielle­icht auf seine Anre­gung zurück­ge­ht, verewigt. Auch der Bru­neck­er Heimat­forsch­er und Jurist Paul Tschurtschen­thaler (1874–1941) hat inten­siv am und mit dem Stadtarchiv gear­beit­et. Dieses befand sich zu sein­er Zeit am neuzeitlich als Flanier­meile aus­ge­baut­en Graben, zunächst in der heuti­gen Mit­telschule “Karl Meus­burg­er”, danach ab 1933 im heute nicht mehr existieren­den Grün­derzeit­bau, der ursprünglich als Sparkasse errichtet wor­den war, 1966 abgeris­sen wurde und an dessen Stelle heute die Ban­ca di Tren­to e Bolzano ste­ht. Bei­de Häuser strahlten wie auch das ehe­ma­lige Bezirks­gericht mit dem dazuge­höri­gen “Tschum­pus”, dem eben­falls abgeris­se­nen Bezirks­ge­fäng­nis, einen Hauch von kaiser­lich-königlich­er Wiener Grün­derzeit, aber auch von Beamten­grantelei und Bürokratie aus.

Die Zer­reißung des städtis­chen Archivs in zwei Teile war ein gravieren­der Ein­schnitt, der mit der Grün­dung des Staat­sarchivs Bozen im Jahr 1921 als Sek­tion des Staat­sarchivs Tri­ent begann. 1930 wurde diese Staat­sarchivsek­tion in den Rang eines eigen­ständi­gen Staat­sarchivs erhoben, das im Schloss Maretsch unterge­bracht war. Im August 1940 kam der ältere Teil des Stadtarchivs Bru­neck in das Staat­sarchiv Bozen. Die rel­a­tiv willkür­liche Aufteilung des Archivbe­standes geschah dabei – wie Chris­tine Roi­lo ver­mutet – wohl in der Absicht, den “neueren” Teil der Akten oder zumin­d­est die in der zweit­en Hälfte des 19. Jahrhun­derts ent­stande­nen Bestands­grup­pen vor Ort zu belassen, und einen “his­torischen” Teil hinge­gen den Bestän­den des Staat­sarchivs einzu­ver­leiben.

In der Zeit der deutschen Zivil­ver­wal­tung – der soge­nan­nten “Oper­a­tionszone Alpen­vor­land” – nach dem 8. Sep­tem­ber 1943 wur­den die Bestände des Bozn­er Staat­sarchiv auf ver­schiedene Orte in Südtirol verteilt, wobei die Bru­neck­er Akten auf Schloss Bru­neck gebracht, tat­säch­lich in der Burg aus den Trans­portk­isten aus­gepackt und auf aus dem Staat­sarchiv mit­ge­bracht­en Regalen aufgestellt wur­den. Nach Kriegsende aber wur­den die Archiva­lien, die kurz Heimatluft geschnup­pert hat­ten, samt den Regalen zurück nach Bozen gebracht. 1972 wurde das dor­tige Staat­sarchiv geschlossen, 1973–1974 wur­den die Bestände in eine Lager­halle ver­legt und erst 1986 kon­nte der Neubau in der Arman­do-Diaz-Straße bezo­gen wer­den, der seit­dem die Lan­des­bib­lio­thek, das Südtirol­er Lan­desarchiv und das Staat­sarchiv Bozen beherbergt. Der Teilbe­stand Stadtarchiv Bru­neck wurde 1986 auf­grund des Staats­ge­set­zes Nr. 118 vom 11. März 1972 vom Staats- an das Südtirol­er Lan­desarchiv übergeben, wo er danach als Deposi­tum ver­wahrt wurde.

Auch für den in Bru­neck verbliebe­nen Teil des Stadtarchivs ging die Reise weit­er, zuerst in das derzeit entk­ernte alte Rathaus im ehe­ma­li­gen Hotel „Europa“ und von dort in das Gebäude der alten Feuer­wehrhalle in der Galileo-Galilei-Straße, wo der Bru­neck­er His­torik­er Hubert Stem­berg­er (1921–2002), dessen Nach­lass heute ein wichtiger Teil des Stadtarchivs ist, am Dachbo­den mit den städtis­chen Akten arbeit­en kon­nte. Darauf wurde das Archiv in den Keller der Gemein­de­polizei in der Lamp­is­traße 2 über­siedelt. Die vor­let­zte Sta­tion war ein Depot im zweit­en Untergeschoss des neuen Rathaus­es, das 2004 eröffnet wurde und wo sich das Zwis­chenar­chiv heute noch befind­et. 2013 kon­nte das his­torische Archiv, das heißt der Teil, der sich noch in Bru­neck befand, in den Neubau “Lib­ri­Ka” über­siedelt wer­den, wo ein eigenes Depot samt Archivars­büro ein­gerichtet wor­den war.

Im ver­gan­genen Mai 2018 kon­nte auch der zweite Teil des Archivs, der in chro­nol­o­gis­ch­er Hin­sicht eigentlich der erste ist, mit den jün­geren Bestän­den zusam­menge­führt wer­den. Das Archiv ist damit wieder kom­plett und reicht nun­mehr in das ferne Jahr 1319 mit ein­er Urkunde zurück, die in der Vit­rine aus­gestellt ist. Sie bestätigt, dass Ulre­ich der Lues­naer und andere Chorher­ren des Kol­le­giat­s­tifts von Unser­frau zu Brix­en der Gesa von Säben einen Ack­er ver­lei­hen. Das Doku­ment hat mit Bru­neck eigentlich gar nichts zu tun, aber das passt gut in die Über­liefer­ung unser­er Stadt, deren Grün­dungs­jahr gar nicht so genau bekan­nt ist und deren Erster­wäh­nung im Jahr 1256 nicht im Stadtarchiv, son­dern im Archiv des Stiftes Wilten zu find­en ist. Das Perga­ment ist klein und unschein­bar, das Siegel ist ver­loren. Der Rück­en der Urkunde weist eine Buch­staben- und Zahlenkom­bi­na­tion aus dem 17. Jahrhun­dert auf, die uns Auskun­ft über ihre ursprüngliche Lagerung in ein­er Lade gibt, die wiederum Teil eines Archivmö­bels war, das wohl ver­loren ist – vielle­icht ver­heizt, verkauft, ver­schenkt oder umge­baut wurde. Vielle­icht schlum­mert es aber doch noch in einem Keller oder auf einem Dachbo­den vor sich hin und wartet auf seine Wieder­ent­deck­ung – das wäre eine Sen­sa­tion. Wir wis­sen, dass sich die Bru­neck­er Stadtväter bere­its im Jahr 1539 Gedanken über das Archiv macht­en. Die Rat­spro­tokolle informieren über eine Reg­i­s­tratur der “brieflichen gerechtigkait­en”, die einige Jahre vorher angelegt wor­den war; die Urkun­den waren in der Neukirche (der heuti­gen Ursu­li­nenkirche) “in Trüch­lein gelegt” wor­den. Emil von Otten­thal kon­nte noch um 1900 fest­stellen: “Namentlich die Acten sind ganz wahl­los theils in den mit Laden verse­henen, theils in den mit Schubthüren verse­henen Schrank ver­theilt.” Auch in dieser Zeit gab es also noch zumin­d­est einen hölz­er­nen Archivschrank.

Zum “his­torischen” Teil des Stadtarchivs gehört auch die Rei­he der Rat­spro­tokolle, von denen der älteste erhal­tene Band die Jahre 1530 bis 1535 doku­men­tiert. Als erster Beschluss ist darin die Entschei­dung des Stad­trates fest­ge­hal­ten, um eine Bestä­ti­gung der Frei­heit der Stadt anzusuchen, in Taufers Käse, Schmalz, Korn und andere Vik­tu­alien kaufen zu kön­nen – in den wichtig­sten Tage­sor­d­nungspunk­ten ging es über Jahrhun­derte hin­weg vor allem um die Sub­sis­tenz, die Ver­sorgung mit Nahrung, um primäre Bedürfnisse also, die von der “Poli­tik” zu befriedi­gen waren.

Rat­spro­tokolle 1572–1582, S. 4. Foto: Stadtarchiv Bru­neck.

Die hier gezeigte Seite aus dem sech­sten Band hinge­gen zeigt einen Ein­trag, der über die Ent­loh­nung des “Deutschschul­hal­ters”, also des Lehrers in der deutschen Schule, und dabei gle­ich über ein – wenn wir so wollen – Schul­sys­tem im Jahr 1572 Auskun­ft gibt: “von ain Schuelkind so das ABC lern­ndt, jede Quatem­ber 18 kr; […] von ainn khnab so anfacht das ABC zu schreiben 20 kr; so ainen brief schreibt ain Quatem­ber 24 kr; Item so anfacht die Species zu rait­en [die Grun­drechenarten zu üben, Anm.] 40 kr.” Ziel dieser schulis­chen Aus­bil­dung, die Lesen, Schreiben und die Grund­la­gen des Rech­nens ver­mit­telte, war es, in den Kauf­mann­stand einzutreten.

Im Band von 1854 ist eine kolo­ri­erte Zeich­nung einge­bun­den, die den Grun­driss des Ziegelschlages von Karl Neuhauser hin­ter dem Schloss zeigt, der sich dort befand, wo heute ein Park­platz ist. Hier­bei han­delt es sich um eine der im älteren Archiv rel­a­tiv sel­te­nen bildlichen Quellen.

Sup­p­lik an den Stad­trat von Eva, Agnes und Bar­bara (der Sti­flerischen Witwe und ihrer Töchter), 1710. Foto: Stadtarchiv Bru­neck.

Zum “älteren” Bestand des Stadtarchivs gehören weit­ers die Bittschriften an den Stad­trat, die das gesamte 17. und 18. Jahrhun­dert betr­e­f­fen und die Stimme der “kleinen Leute” hör­bar machen, die um finanzielle oder andere Unter­stützung ansucht­en. Eva, Agnes und Bar­bara, die Sti­flerische Witwe und ihre Töchter, bedank­ten sich im Dezem­ber 1710 für Gnaden und Gut­tat­en, die nur der Him­mel vergel­ten könne. Die Witwe sei alt und “baufäl­lig”, alle drei hät­ten kein Einkom­men und sie ersuchen deshalb um etwas Geld für den Ankauf von Holz und die Bezahlung des Her­bergzins­es. Der “Kham­plmach­er” Simon Gal­tenstain­er befand sich, so brachte ein Schreiber für ihn zu Papi­er, in einem “Ellend betriebten standt” und bat auf­grund seines Alter, sein­er Armut und abnehmenden Sehkraft, wegen der er nicht mehr arbeit­en kon­nte, im März 1710 um eine Unter­stützung für die “khalte[r] Win­ter­szeit”. Die Witwe und ihre Töchter erhiel­ten zwei Gulden, der “Kham­plmach­er” ein halbes Star Weizen und ein halbes Star Roggen zugewiesen. Let­zter­er hat­te – wie wir annehmen kön­nen – keinen Besitz in Bru­neck, auch über das Bürg­er­recht ver­fügte er wohl nicht, er war ein Inwohn­er oder Inge­häuse, vielle­icht ein reisender Handw­erk­er. Das Meldeamt mit seinen Frem­den­melde­büch­ern ist – wie auch die staatliche Sozialfür­sorge – eine Ein­rich­tung aus viel später­er Zeit.

Grun­driss des Ziegelschlages hin­ter dem Bru­neck­er Schloss­berg, einge­bun­den in die Mag­is­trat­spro­tokolle des Jahres 1854. Foto: Stadtarchiv Bru­neck.

Das his­torische Archiv bietet auch Ein­blick in die Rech­nungsle­gung der Stadt, ihrer Brud­er­schaften, der Pfar­rkirche, des Stadt­spi­tals, und lädt zu einem virtuellen Rundgang über den Loren­z­i­markt in einem der Jahre zwis­chen 1546 und 1798 ein – wir erfahren, wer, wann, in welchem Umfang und vielle­icht sog­ar zu welchen Preisen seine Waren anbot. Das Archiv der Fam­i­lie Tin­khauser ste­ht dicht an dicht mit den Merk­wirdigkeit­en von Brunegg von Jahr 1723 bis 1743 des Stadtschreibers und Chro­nis­ten Johann Joseph von Tschusy (1665–1744), der 1738 den Besuch der Erzher­zo­gin Maria There­sia samt Mann, Hof­s­taat, Per­son­al, Küche und Keller in Bru­neck doku­men­tierte. Für eine Nacht räumten Adel und Bürg­er­schaft alle Räume frei, die sich zur Unter­bringung des hochherrschaftlichen Besuchs und sein­er Entourage eigneten.

Nicht zulet­zt umfasst das Archiv 18 Faszikel, in denen soge­nan­nte “Miszellen” zusam­menge­bun­den sind, Doku­mente quer durch die Epochen und den the­ma­tis­chen Gemüsegarten, die noch kaum bekan­nt geschweige denn erforscht sind.

Mit der Rück­führung des his­torischen Archivs ist ein lange gehegter Wun­sch der Stadt­ge­meinde Bru­neck, ihres His­torischen Beirats und viel­er Bru­neck­erin­nen und Bru­neck­er in Erfül­lung gegan­gen. Die Bemühun­gen um eine Rück­bringung des “alten” Archivs reichen in die Zeit vor der Jahrtausendwende zurück und es gab immer engagierte Bürg­erin­nen und Bürg­er, die sich für eine Zusam­men­führung und Rekon­struk­tion des Stadtarchivs ein­set­zten. Seit dem 16. Mai 2018 – dieses Datum wird selb­st in die Stadt­geschichte einge­hen – ste­ht nun das gesamte his­torische Archiv für eine ver­tiefte Auseinan­der­set­zung mit der Geschichte der Stadt bzw. Stadt­ge­meinde sowie der Region des mit­tleren Puster­tals vor Ort zur Ver­fü­gung. Mit der Schaf­fung der nöti­gen Infra­struk­tur und ein­er Archivarsstelle hat die Stadt­ge­meinde die notwendi­gen Bedin­gun­gen dafür erfüllt und durch das Ent­ge­genkom­men und Engage­ment des Südtirol­er Lan­desarchivs wurde das große Ziel erre­icht.

Die Rück­bringung des his­torischen Archivs nach Bru­neck ist aber keineswegs als Ende, son­dern als Anfang, als Meilen­stein auf dem weit­eren Weg zu sehen, den wir hier und heute feiern. Um es mit dem eigentlich viel zu oft zitierten Leit­satz human­is­tis­ch­er Forschung zu sagen: “Ad fontes”, “Zu den Quellen!”. Sie, die Quellen, ste­hen wie in der “Trinkstube” auch im Stadtarchiv zur Ver­fü­gung und warten auf ihre Ent­deck­ung.


Ref­eren­zen:

  • Philipp Egger, Die Trinkstube in Bru­neck im Haus der Apotheke von Zieglauer. Ein Kul­tur­bild aus dem frühen 16. Jahrhun­dert, Bru­neck 1998.
  • “Bru­neck”, in: Emil von Otten­thal / Oswald Redlich, Archiv-Berichte aus Tirol, III. Band, Wien/Leipzig 1903, S. 190–224.
  • Chris­tine Roi­lo, Das Bru­neck­er Stadtarchiv und seine Bestände, in: Ste­fan Lech­n­er (Hg.), Der lange Weg in die Mod­erne. Geschichte der Stadt Bru­neck 1800–2006, Inns­bruck 2006, S. 395–420.
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