Im Jahr 1478 kam es zu einem Streitfall in Bruneck, als die vier Bäcker in der Stadt das Brot nicht nach den in der Stadtordnung vorgegebenen Regeln backen wollten und sich wohl auch beim Verkauf nicht an die gültigen Gesetze hielten. Aus diesem Grund wurde den Bäckern durch den in Bruneck waltenden Hauptmann des Brixner Fürstbischofs, Balthasar von Welsberg, ihr Gewerbe verboten. Um die Erlaubnis zur Ausübung ihres Berufes wiederzuerlangen und diesen kleinen Eklat aus der Welt zu schaffen, mussten die Handwerker schriftlich versichern, sich wieder an die Regeln zu halten. Dieser Akt des Eingeständnisses von Fehlern wurde mit der Ausstellung einer Urkunde vollzogen, die heute Teil der Urkundenreihe im Stadtarchiv ist (Abbildung 1). Es handelt sich um eine Siegelurkunde auf Pergament in deutscher Sprache, wie sie aus dem Spätmittelalter in großer Zahl überliefert sind.
Dieses Dokument bildete als Nummer eins (von zehn) den Auftakt der Ausstellung „Zehn Jahre – zehn Objekte – viele Geschichten / Dieci anni – dieci documenti – molte testimonianze“, die im Juni 2023 im Ragenhaus in Bruneck zu sehen war und den Rahmen für den ersten Südtiroler Archivtag bildete, der im selben Gebäude, dem historischen Ansitz Ragen, stattfand. Das am 8. und 9. Juni auf Einladung des Südtiroler Landesarchivs und des Stadtarchivs Bruneck durchgeführte Symposion war in dieser Form eine Premiere. Der Südtiroler Archivtag war ins Leben gerufen worden, um über Geschichte, Gegenwart und Zukunft des lokalen und regionalen Archivwesens zu diskutieren und dessen Entwicklungen mit anderen Regionen im In- und Ausland zu vergleichen.
Für die Veranstaltung gab es einen konkreten Anlass: Seit 2008 wird am 9. Juni der Internationale Tag der Archive („International Archives Day“) begangen. Die Initiative dazu geht auf die Nichtregierungsorganisation „International Council on Archives“ (ICA) zurück, die damit Bezug auf das Datum ihrer eigenen, am 9. Juni 1948 unter der Schirmherrschaft der Unesco erfolgten Gründung nimmt.
Der konkrete Grund für die Entscheidung, den Archivtag in Bruneck abzuhalten, war das zehnjährige Bestehen des Stadtarchivs Bruneck, das im Jahr 2013 als Institution aus der Taufe gehoben wurde, im Wesentlichen aber die Programmatik der bereits länger bestehenden Initiative „Archiv Bruneck / Archivio Brunico“ weiterführt. Neu war 2013, dass die Stadtgemeinde einen hauptamtlichen Archivar einstellte und das Archiv gemeinsam mit der Stadtbibliothek und der Universitätsbibliothek im Gebäude „LibriKa“, das heuer ebenfalls sein zehnjähriges Bestehen feiert, geeignete Räume für Büro und Depot erhielt. Das damit institutionalisierte und verortete Stadtarchiv sah sich von Anfang an verpflichtet, sich bestmöglich der Verwahrung, Erschließung, Erforschung und Vermittlung lokaler Geschichtszeugnisse zu widmen.
Zudem war ein weiteres kleines Jubiläum zu feiern: Vor fünf Jahren, 2018, konnte der ältere Teil des Stadtarchivs, der wie andere kommunale Bestände aus Südtirol als Depositum zunächst im Staatsarchiv Bozen und nach dessen Errichtung im Südtiroler Landesarchiv verwahrt worden war, nach Bruneck gebracht werden, wo er nunmehr für eine genauere Verzeichnung und Analyse wie auch die Forschung am Ort seiner Entstehung zur Verfügung steht.
Der erste Südtiroler Archivtag wurde am Abend des 8. Juni feierlich eröffnet. Zugleich fand die Vernissage der erwähnten Ausstellung „Zehn Jahre – zehn Objekte – viele Geschichten / Dieci anni – dieci documenti – molte testimonianze“ statt. Sie sollte mittels elf Ausstellungstafeln und zweier Vitrinen einen Einblick in Bestände und Tätigkeitsfelder des Stadtarchivs geben, wobei zehn Objekte aus unterschiedlichen Epochen verschiedene Quellengattungen repräsentierten und als Leitfaden dienten. Sie standen stellvertretend für die historische Überlieferung, die über die Geschichte der Stadtgemeinde Bruneck Auskunft gibt.
Die oben erwähnte Urkunde von 1478, die eine Geschichte aus dem späten Mittelalter, der Zeit der Stadtgründung und des Beginns der schriftlichen Überlieferung aus und über die Stadt erzählt, vertrat dabei die mit dem Jahr 1319 einsetzende Urkundenreihe und somit die ältesten Bestände des Stadtarchivs. Das jüngste „Objekt“ in der Ausstellung war hingegen eine Ansichtskarte aus der Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert, die eine Szene in der Brunecker Stadtgasse zeigt und Fragen der Inszenierung von „Alltag“, nach Geschlechterrollen sowie nach der Bedeutung unterschiedlicher Medien für die Vermittlung von Botschaften – in diesem Fall von Werbung – stellen lässt. Zwischen den Tafeln eins und zehn fanden sich „Objekte“ aus unterschiedlichen Epochen ebenso wie unterschiedlichen Charakters und nicht zuletzt unterschiedlicher Provenienz. Das Stadtarchiv verwahrt heute nämlich nicht mehr nur Zeugnisse städtischer und gemeindlicher Verwaltung auf Pergament, Papier und digitalen Datenträgern, sondern ist auch zu einem Ort des Sammelns geworden, was nicht zuletzt auch diese Ansichtskarte mit der auf ihr reproduzierten historischen Fotografie anschaulich zeigt (Abbildung 2).
Die fundamentale Aufgabe des Bewahrens, die Archive mit Bibliotheken und Museen gemeinsam haben, war ein Thema, das sich durch alle Vorträge des zweiten Tages des Symposions zog. Am Freitag, dem 9. Juni, wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Entwicklung und den aktuellen Herausforderungen der Archivlandschaften von Tirol, Südtirol und dem Trentino sowie in benachbarten Regionen erörtert und diskutiert.
Die Ausstellung „Zehn Jahre – zehn Objekte – viele Geschichten / Dieci anni – dieci documenti – molte testimonianze“ war nach ihrer Erstpräsentation im Ragenhaus den Sommer über in der Brunecker „LibriKa“ zu sehen, wo sie weiterhin Gelegenheit bot, Einblicke in Bestände und Arbeit des Stadtarchivs zu nehmen. Im kommenden Jahr wird sie voraussichtlich ein weiteres Mal gezeigt, dann im Brunecker Rathaus. Der Zeitrahmen wird auf dieser Webseite rechtzeitig veröffentlicht werden.
- Programm des ersten Südtiroler Archivtages (interner Link)
- Ankündigung auf der Website der Südtiroler Landesverwaltung
Dieser Text erschien zuerst ausführlicher in: Tiroler Chronist Nr. 168/2023, S. 57–59.