Im Brunecker Stadtarchiv wird die Reihe von Büchern verwahrt, die zu den wertvollsten Beständen gehören, da sie Auskunft über die Geschichte der Stadt seit dem Spätmittelalter geben. Diese Bücher enthalten die Protokolle der Sitzungen des Stadtrates sowie jene der sogenannten „Taidinge“, d.h. von Bürgerversammlungen. In diesen Büchern spiegelt sich das Wechselspiel der Einwohnerinnen und Einwohner mit den Vertretern im Stadtrat und dem Bürgermeister sowie der fürstbischöflichen Obrigkeit wieder.
Die Schriften, die im Stadtarchiv bis ins 19. Jahrhundert wohl in der Form zu Lagen verbundener, eventuell auch mit Faden gehefteter Papierbögen überliefert waren, wurden im Lauf des 19. Jahrhunderts zu Halblederbänden zusammengefasst, d.h. es wurden jeweils einige Lagen mit Kartondeckeln und ledernem Rücken zu Büchern gebunden.
Von diesen Büchern fehlen heute zwei, nämlich die ältesten. Die Reihe im Stadtarchiv beginnt in ihrer heutigen Form nicht mit der Nummer I, sondern mit der Nummer III (siehe Abbildung), was bedeutet, dass es im 19. Jahrhundert noch zwei weitere Bände gegeben haben muss, die heute verschollen sind. Wo aber sind sie und wann sind sie abhanden gekommen?
Wir wissen, dass die überlieferten Protokolle der Sitzungen des Stadtrates ursprünglich mit dem Jahr 1508 einsetzten. Als Emil von Ottenthal und Oswald Redlich am Anfang des 19. Jahrhunderts alle kirchlichen und kommunalen Archive in Tirol beschrieben, war die Reihe der Ratsprotokolle von 1508 bis 1810 im Brunecker Stadtarchiv noch vollständig.[1] Als der Brunecker Heimatforscher und Jurist Paul Tschurtschenthaler (1874–1941) sein Brunecker Heimatbuch schrieb, das 1928 gedruckt wurde, waren die älteren Bücher wohl ebenfalls noch vorhanden. Tschurtschenthaler zitiert nämlich aus den Ratsprotokollen der Jahre 1511 und 1519.[2] Allerdings geht hieraus nicht hervor, ob dem Autor die Originale vorlagen oder ob er – es geht um den Bildschnitzer Michael Parth/Barth – sich auf eine Vorlage in der Forschungsliteratur stützte. Auszuschließen ist wohl eine Übernahme aus Johann N. Tinkhausers Geschichtlichen Nachrichten (1834). Tinkhauser erwähnt zwar Parth in Hinblick auf den Kirchenbau in Bruneck 1517, gibt dafür aber keine Quelle an.[3]
Dass der Goldschmied, Geschichtsschreiber und zeitweilige Bürgermeister Tinkhauser (1787–1844) die Ratsprotokolle kannte und bearbeitete, steht außer Zweifel. Eventuell war er es, der die Bindung der Lagen in Buchform anregte. Nach Tinkhauser arbeitete der erwähnte Paul Tschurtschenthaler intensiv am und mit dem Stadtarchiv. Dieses befand sich zu seiner Zeit zunächst in der heutigen Mittelschule Karl Meusburger, danach ab 1933 im heute nicht mehr existierenden Gründerzeitbau, der ursprünglich als Sparkasse errichtet worden war.[4]
In den 1940er Jahren erlebte das Brunecker Stadtarchiv eine turbulente Geschichte. Im August 1940 kam der ältere Teil der Urkunden, Bücher und Akten in das Staatsarchiv Bozen. Die relativ willkürliche Aufteilung des Archivbestandes geschah dabei – wie Christine Roilo vermutet – wohl in der Absicht, den „neueren“ Teil der Akten oder zumindest die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Bestandsgruppen vor Ort zu belassen und einen „historischen“ Teil hingegen den Beständen des Staatsarchivs einzuverleiben.
In der Zeit der deutschen Zivilverwaltung (der sogenannten Operationszone Alpenvorland) nach dem 8. September 1943 wurden die Bestände des Bozner Staatsarchiv auf verschiedene Orte in Südtirol verteilt, wobei die Brunecker Akten auf Schloss Bruneck gebracht wurden. Nach Kriegsende aber wurden die Archivalien, die kurz Heimatluft geschnuppert hatten, samt den Regalen zurück nach Bozen geliefert. Die beiden älteren Bände der Ratsprotokolle scheinen zu diesem Zeitpunkt bereits gefehlt zu haben. Als die Brunecker Protokollbücher 1943 mikroverfilmt wurden, begann man nämlich mit dem dritten Band, der den Zeitraum 1530–1535 umfasst.[5]
Interessant ist, dass Franz Huter (1899–1997) in einem Artikel im “Schlern” aus dem Jahr 1946 darauf hinweist, dass Vinzenz Lebenpacher (ein Sohn Friedrich Pachers?) in den Brunecker Ratsprotokollen von 1526/27 erwähnt sei. War es Huter also möglich gewesen, in die Protokolle Einsicht zu nehmen oder hat er sich auf Fotokopien, Fotografien oder Abschriften gestützt? In einer Fußnote des Beitrages gibt er an, dass der Artikel früher hätte erscheinen sollen (1943?), “da in der Heimat keine Veröffentlichungsmöglichkeiten bestanden.”[6] Falls Huter noch mit den Originalen der Ratsprotokolle arbeiten konnte (er war von 1940 bis 1945 Archivreferent und Beauftragter für Archivschutz in Südtirol[7]), ist jedenfalls anzunehmen, dass diese erst nach seiner Untersuchung verloren gingen bzw. verlegt wurden.
Das Auffinden der Ratsprotokolle wäre sehr wichtig für die Erforschung der Stadtgeschichte, da es von ihnen weder Abschriften noch Verfilmungen gibt. Die Beschlüsse des Stadtrates in der Zeit zwischen 1508 und 1529/30 sind wie auch die Niederschriften des „Ehaft Taiding“ gänzlich unbekannt. Dies ist besonders schmerzlich, da gerade in dieser Zeit des Umbruchs am Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit (auch) in Bruneck viel passiert ist. Gerade hinsichtlich der bevorstehenden 500-Jahr-Erinnerung an den Tiroler Bauernkrieg (1525) und all seiner Implikationen gerade für das Pustertal und den Brunecker Raum wäre ein Wiederauffinden der beiden Bücher deshalb von großer Bedeutung und geradezu eine Sensation.
Anmerkungen
[1] Emil von Ottenthal / Oswald Redlich, Archiv-Berichte aus Tirol, III. Band (Mittheilungen der dritten (Archiv-) Section der k.k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale 5), Wien/Leipzig 1903, S. 192.
[2] Paul Tschurtschenthaler, Brunecker Heimatbuch, Bozen 1928, S. 63.
[3] Hubert Stemberger (Bearb.), J.N. Tinkhauser’s Brunecker Chronik 1834. „Geschichtliche Nachrichten von der k.k. Kreisstadt Bruneck und derselben Umgebung”. Mit 147 Faksimile-Farbdrucken nach den Vorlagen des Verfassers, Bozen 1981, S. 73.
[4] Vgl. Christine Roilo, Das Brunecker Stadtarchiv und seine Bestände, in: Stefan Lechner (Hg.), Der lange Weg in die Moderne. Geschichte der Stadt Bruneck 1800–2006, Innsbruck 2006, S. 395–420, hier S. 395.
[5] Die Datierung der Verfilmung geht aus einem ebenfalls verfilmten Begleitblatt hervor: Südtiroler Landesarchiv, Mikrofilmrolle Nr. 1345718, Aufnahme Nr. 181.
[6] Franz Huter, Archivalische Funde zur Südtiroler Kunstgeschichte: Neues zur Geschichte der Brunecker Künstlerfamilie Pacher, in: Der Schlern, 20. Jg. (1946), 98–107, 101 und 98 Anm. *.
[7] Vgl. Angela Mura, Franz Huter und die Tätigkeit der ‘Arbeitsgruppe Archive’ der Kulturkommission Südtirol des ‘SS-Ahnenerbes’, in: Christian Fuhrmeister et al., Kunsthistoriker im Krieg. Deutscher militärischer Kunstschutz in Italien 1943–1945, Köln/Weimar/Wien 2012, 173–186.