Am Ufer der Ahr, etwa in der Mitte zwischen den Dörfern St. Georgen und Stegen, liegen orographisch rechts zwei große Granitblöcke, von denen einer als Alt(h)ingstein bezeichnet wird. Der Name korrespondiert mit der Bezeichnung der umgebenden Flur links und rechts des Flusses, die Althing oder Alting heißt. Bereits im historischen Kataster aus der Mitte des 19. Jahrhunderts wird sie so bezeichnet (Abbildung 2). Karl Staudacher beschrieb sie 1926 noch als weitläufige Wiese:
„Es ist ein schöner, ebener Rasenplatz, nicht sehr groß, mit schütterem Lärchenbestande, am Ufer der Ahr; jenseits des Flusses dehnt sich die gleiche Ebene bedeutend weiter aus bis zum Fuße des Pfalzner Berges. Auch dort standen einige Lärchen, wahre Riesenbäume; […].“[1]
In die Bedeutung des Namens wurde viel hineininterpretiert, Heimatforscher wie Paul Tschurtschenthaler vermuteten hier den Ort, an dem jährlich „alte Gautage“ abgehalten wurden, aus denen der Stegener Markt entstanden sei.[2]
Über die Entstehung des Stegener Marktes aus frühen Versammlungen und Gerichtssitzungen und die Althing als Gerichtsort haben sich im Lauf des 20. Jahrhunderts mehrere Historiker Gedanken gemacht, schriftliche Quellen fehlen aber weitestgehend. Insofern bleibt auch die Rolle des Althingsteines unklar. Als Beleg für die Bedeutung des Ortes führte Staudacher zwar die Nähe einer Brücke über die Ahr ins Feld, die auch ausschlaggebend für die Entstehung des Ortes Stegen (= am Steg, an der Brücke) gewesen sei; den Stein aber erwähnte er nicht.[3]
Karl Theodor Hoeniger griff 1949 diese Argumentation auf, wonach Stegen „uralt“ (wenngleich erst um das Jahr 1000 erstmals als Ort erwähnt) sei und zwei Brücken seinen Namen verdanke.[4] Die Annahme, dass der Stegener Markt „vor mehreren Jahrhunderten in der Alting abgehalten wurde“, entstamme aber allein der „Volksüberlieferung“.[5] Dass auf den Wiesen nördlich der Stegener Kirche „in längstvergangener Zeit die allgemeine Gauversammlung abgehalten wurde“, schloss Hoeniger nicht aus:
„Da aber die Volks- und Gerichtsversammlungen gewöhnlich in der Nähe wichtiger Brücken abgehalten wurden, um alle Teilnehmer durch den Augenschein an Ort und Stelle für die zur Erhaltung der Brücke notwenigen Maßnahmen und Leistungen zu verpflichten, spricht dies […] für den Bestand einer alten Dingstätte bei Stegen.“[6]
Seine Argumentation führt ihn zu einer etwas abenteuerlichen Schlussfolgerung, die ihn auch eine Brücke zur Entstehung des Stegener Marktes schlagen lässt:
„[…] scheint mir die Altingstatt zwischen Stegen und St. Georgen, die an keinen Kirchplatz gebunden war, der geeignetste Platz für die große Herbst-Gauversammlung, für das All-Ding gewesen zu sein, an das sich in ältester Zeit, als die damals noch heidnischen Baiern um 600 das Brunecker Becken besiedelt haben, auch die zum Erntedank und Totenkult gehörigen Opferschmäuse anschlossen. […] [D]er Stegener Markt dürfte […] seinen Ursprung dem Pustertaler Allding, der großen Herbst-Gautagung, verdanken, deren kultischer Abschluß in heidnischer Zeit zu einer Vorfeier für Allerheiligen-Allerseelen verchristlicht und schließlich zu einem Jahrmarkt ausgestaltet wurde.“[7]
Auffallend ist, dass Hoeniger den Althingstein nicht erwähnt. Ebenso wenig spielte er für Otto Stolz eine Rolle, der sich immerhin mit dem ursprünglichen Sitz des städtischen und hochstiftischen Gerichtes in Bruneck auseinandersetzte. Stolz schrieb, indem er sich auf Franz Anton Sinnachers Beyträge zur Geschichte der bischöflichen Kirche Säben und Brixen in Tyrol (1821–1835) stützte, von einer Erklärung des Brixner Bischofs im Jahr 1305:
„Nach allgemeinem Gedenken sei das Gericht des Hochstiftes früher zu Alten Stegen (ein Dorf westlich von Bruneck) gehalten und dahin seien die Wachten und Steuern geleistet worden, denn dort sei damals die Stadt gelegen.“[8]
Der Althingstein war Stolz entweder nicht bekannt oder aber er klammerte ihn bewusst aus seinen Überlegungen aus. Auch für Oswald Menghin, Hermann Wopfner und den bereits erwähnten Paul Tschurtschenthaler, die im Schlern 1925 eine Diskussion über vermeintliche Gerichtssteine im Raum Bruneck entspannen[9], kam der Althingstein als Zentrum einer Gerichtsschranne offenbar nicht in Betracht. Letzterem war aber immerhin die Alting als Toponym ein Begriff, das im 18. Jahrhundert zwei Fluren bezeichnete: ein Altingangerl und einen Altingwald.[10]
Bemerkenswert ist auch, dass der Stein in Johann N. Tinkhauser’s Geschichtlichen Nachrichten von der k.k. Kreisstadt Bruneck und derselben Umgebung (1834), dem grundlegenden Chronikwerk für die lokale Geschichtsschreibung, nicht erwähnt ist. Wie Tschurtschenthaler war aber auch Tinkhauser die Flur Altung (!) ein Begriff.[11]
Dementsprechend ist der Althingstein auch in den Mappen des Franziszeischen Katasters aus der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht als Flurdenkmal eingezeichnet (Abbildung 2). Auch die älteste bekannte kartographische Darstellung von Bruneck und der Umgebung der Stadt aus dem Jahr 1581 weist an der Stelle, an der heute der Felsen verortet wird, keine Besonderheit aus (während etwa die Steine, die die Grenze des Stadtgerichts markierten, penibel eingezeichnet sind).[12]
Allerdings ist bis heute der Name Spitziger Stein oder Spitzer Stein geläufig, der – angesichts des Fehlens größerer Findlinge im weiteren Umkreis – wohl denselben Stein bezeichnet wie der Name Althingstein. Die Beschreibung eines äußeren Merkmals legt nahe, dass mit Spitzer Stein der kleinere der beiden Findlinge an der Ahr gemeint sein dürfte, der eine auffällige Spitze und eine ebene – heute schräg liegende – Fläche aufweist. Die Tatsache, dass der „Spitze Stein in Stegen“ bis heute eine Fischereigrenze markiert und die Bezeichnung wenn nicht als Grenzmarkierung im Kataster, so doch im Fischereirecht überdauert hat, lässt vermuten, dass der Fels zumindest für eine althergekommene Flureinteilung eine Rolle spielte.[13]
Der erste Autor, der die Aufmerksamkeit eines historisch interessierten Publikums auf den Althingstein lenkte, scheint ein gewisser L. Gozzi zu sein, der 1947 einen Text über den Stegener Markt veröffentlichte und darin auf einen „Granitstein von bedeutender Größe und teilweise im Flußbett versunken“ hinwies.[14] Gozzis Text wurde von Karl Theodor Hoeniger zitiert, als er 1949 auf den Althingstein aufmerksam machte.[15] Zuletzt griff der Kapuziner und Heimatforscher Georg Markus Schraffl diesen Erzählstrang auf und schrieb um 1970 vom „teilweise ins Flußbett versunkenen Granitblock, der den Namen Altingstein trägt.“[16] Hierbei wurde der Althingstein wohl zum ersten Mal in Bezug zum sogenannten Julstein in St. Georgen und somit zu anderen vermeintlichen Gerichtsstätten in der Umgebung von Bruneck gebracht, was die Idee befördert haben mag, dass auch in der Althing (der Flurname ist weiblich!) ein Richter auf einer Steinplatte (als Schrannentisch) sitzend oder stehend Gericht gehalten habe. Diese Szenerie legt die Beschreibung auf einer Erklärungstafel nahe, die heute unweit des Althingsteines die Bedeutung des Ortes zu erklären versucht:
„Eine ‚Thingstätte‘ war der Gerichtshof und das Urteil wurde vom sogenannten Althing-Stein aus verkündet und vollstreckt.“
Diesen Vermutungen steht gegenüber, dass etwa in einer undatierten Grenzbeschreibung der Stadt Bruneck nicht Alt(h)ing, sondern Altann die Flur an der Ahr bezeichnet. Derselbe Name begegnet in einer Abschrift der Stadtordnung aus dem Jahr 1649: “auf die Altan die da stosst an das groß wasser so auß Taufers geet.”[17] Die Form Altan(n) scheint Althing (und Altung) wenig ähnlich zu sein. Ob sich der Schreiber des Dokumentes in diesem Fall bloß verhört oder verschrieben hat oder ob der Flurname Altann näher zum Begriff der Altane (Söller, Terrasse) als zum altgermanischen All-Ding steht, mag der Sprachforschung zur Beurteilung überlassen bleiben.[18] Diese Deutung würde aber immerhin die Verwendung der Bezeichnung die Althing (in der Althing) als Femininum erklären.
Eine weitere Möglichkeit des Missverständnisses besteht im Vorhandensein eines Flurnamens Alping oder Älpling, der nicht weit entfernt vom Althingstein verortet ist und der 1979 auch Pate für die Benennung einer Straße stand (Am Alping). Eine Urkunde aus dem Jahr 1497 erwähnt den Verkauf des Stückes Wiese genannt der Aelplinger, das am Aufhofener Weg gegen Bruneck lag.[19] In einem Urbar von 1539 wird der Ort als zu Allplingen und zu Allpling beschrieben, in der oben erwähnten Abschrift der Stadtordnung von 1649 ist vom Alphling die Rede.[20] Es wäre denkbar, dass eine Fehlinterpretation bzw. falsche Lesung des Wortes Alping zum Auffinden der vermeintlichen pustertalischen Thingstätte führte. Dagegen spricht aber der Befund, dass der oben erwähnte Franziszeische Kataster eindeutig den Flurnamen Althing am dem Alping gegenüberliegenden Ufer der Ahr ausweist; auch in der Stadtordnung werden beide Begriffe nebeneinander verwendet und bezeichnen zwei unterschiedliche Orte.
Die Stegener Althing bleibt somit bis zum Auffinden weiterer Hinweise ein Rätsel; schriftliche Quellen schweigen, archäologische Nachweise fehlen. Vielleicht kann eine Grabung im Flussbett der Ahr irgendwann Klärung über den wahren Charakter und die Geschichte dieses Ortes bringen.
Zum Weiterlesen: Der sogenannte Gerichtsstein in St. Georgen.
Anmerkungen
[1] Karl Staudacher, Stegener Alting, in: Der Schlern, 7. Jg. (1926), S. 173–174, hier S. 174.
[2] Paul Tschurtschenthaler, Das Bauernleben im Pustertal, Bozen 1935, S. 27.
[3] Staudacher, Alting, S. 174.
[4] Karl Theodor Hoeniger, Zur Geschichte des Stegener Marktes und zum Kaiserbesuch am 7. Juni 1027, in: Der Schlern, 23. Jg. (1949), S. 143–146, hier S. 143.
[5] Hoeniger, Geschichte, S. 144.
[6] Hoeniger, Geschichte, S. 145.
[7] Hoeniger, Geschichte, S. 145–146.
[8] Otto Stolz, Politisch-historische Landesbeschreibung von Südtirol (Schlern-Schriften 40), Bozen 1937, S. 575–576.
[9] Oswald Menghin, Alte Gerichtssteine bei Bruneck, in: Der Schlern, 6. Jg. (1925), S. 112; Hermann Wopfner, Bemerkungen zum Aufsatz O. Menghins über „Alte Gerichtssteine bei Bruneck“, in: Ebd., S. 193f.; Paul Tschurtschenthaler, Nachträge über „Alte Gerichtssteine bei Bruneck“ von Dr. O. Menghin, in: Der Schlern, 6. Jg. (1925), S. 193.
[10] Paul Tschurtschenthaler, Einiges über die Flurnamen im Pustertal, in: Der Schlern, 14. Jg. (1933), S. 395–396, hier: S. 396.
[11] Hubert Stemberger (Bearb.), J.N. Tinkhauser’s Brunecker Chronik 1834. „Geschichtliche Nachrichten von der k.k. Kreisstadt Bruneck und derselben Umgebung“. Mit 147 Faksimile-Farbdrucken nach den Vorlagen des Verfassers, Bozen 1981, S. 129: „Zu Stegen und Greynwalden sönderten [sic!] man die Kranken in dem Walde oder der Altung ab, und stellte ihnen auf einen großen Stein, der noch heute das Mitterkirchl genannt wird, die Lebensmittel hin; […].“
[12] „Abcontrafettür der Statt Braunögg sambt des gerichts Michelspürg negst anrainnenten flöckhen und guettern“. Unbekannter Künstler, 1581. Innsbruck, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Kartografische Sammlung, Inv.-Nr. K IX/44.
[13] Autonome Provinz Bozen – Südtirol, Amt für Jagd und Fischerei, Fischerei, Bewirtschaftungsverzeichnis Pustertal Nord und Ahrntal, Nr. 222 und 223, https://www.provinz.bz.it/land-forstwirtschaft/fauna-jagd-fischerei/fischerei/bewirtschaftungsverzeichnis.asp (eingesehen am 10. Jänner 2022).
[14] L. Gozzi, Rund um den Stegener Markt, in: Der Landwirt Nr. 23, 16. November 1947, S. 9.
[15] Hoeniger, Geschichte, S. 144.
[16] Georg Markus Schraffl, Aus der Chronik von St. Georgen, Brixen, o.D., S. 11. Vgl. auch: Ders., Aus der geschichtlichen Vergangenheit von St. Georgen, in: Michael Mitterhofer (Hg.), St. Georgen an der Ahr im Spiegel seiner Geschichte, Dorfbuch, St. Georgen 1985, 29–72, hier S. 38.
[17] Vgl. Edition in: Margit Baumgartner, Die Hauptmannschaft, die Amtmannschaft, das Stadtgericht Bruneck 1500–1641, Diss. phil. Innsbruck 1972, S. 169–172. Stadtordnung, Abschrift dat. 1649, p. 180. Stadtarchiv Bruneck, Bozner Bestand, Serie VIII Nr. 1. In einer weiteren Beschreibung der Grenzen des Stadtgerichts Bruneck (Fragment ohne Datierung, um 1600?) im Brunecker Stadtarchiv findet sich ebenso die Bezeichnung Altann.
[18] Vgl. Lemma Altan in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste 1731–1754, Sp. 1524. https://www.zedler-lexikon.de/index.html?c=blaettern&id=9420&bandnummer=01&seitenzahl=0753&supplement=0&dateiformat=1%27), 05.01.2021. Paul Tschurtschenthaler weist auf einen Acker namens Alting in Stefansdorf bei Reischach hin, der 1399 als Altung bezeichnet wurde: Tschurtschenthaler, Flurnamen, S. 396. Den Ortsnamen Altin/Alting in Stern im Gadertal erklärt Egon Kühebacher als verkürzte Form von Valentin, allerdings wird hierbei die zweite Silbe betont: Egon Kühebacher, Die Ortsnamen Südtirols und ihre Geschichte, Band 1, Bozen 1991, S. 29.
[19] Stadtarchiv Bruneck, Urkundenreihe, Nr. 200.
[20] Stadtarchiv Bruneck, Bozner Bestand, Serie XX, Nr. 1, p. 65; Serie VIII Nr. 1 p. 181.