Der sogenannte Gerichtsstein in St. Georgen

Foto: Stadtarchiv Bru­neck, 2015

Die auf dem Kirch­platz von St. Geor­gen liegende Stein­plat­te wird zumeist als Gerichtsstein beze­ich­net, his­torisch ver­bürgt ist auch der Name Jubel­stein.[1] Im Buch „Bauern­höfe in Südtirol“ (2017) wird sie als Jubel-, Gerichts- und Lahn­stein genan­nt.[2] Ein ähn­lich­er Stein, welch­er Palm­stein, nicht aber Gerichtsstein genan­nt wird,[3] liegt an der Dieten­heimer Straße in Bru­neck. Den Namen Palm­stein führte der Prähis­torik­er Oswald Mengh­in (1888–1973) auf das ger­man­is­che Wort Balme oder Balm zurück, das so viel wie Fels­dach oder Fels bedeute.[4] Der Bru­neck­er Heimat­forsch­er Paul Tschurtschen­thaler (1874–1941) zog diese Deu­tung in Zweifel und merk­te an, dass der Name Palm­stein, den Mengh­in sowohl für den Stein in St. Geor­gen als auch jenen in Bru­neck ver­wen­dete, seines Wis­sens für die St. Geor­gen­er Plat­te nicht gängig sei.[5]

Der Stein in St. Geor­gen hat die Form eines langge­zo­ge­nen unregelmäßi­gen Vierecks, das an der läng­sten Stelle etwa drei Meter, an der bre­itesten Stelle etwa anderthalb Meter misst. Die Plat­te ragt heute etwa dreißig Zen­time­ter aus dem Boden her­vor. In die anson­sten glat­te Ober­fläche sind fünf Grübchen (Schalen) sowie eine größere Aushöh­lung eingetieft, sodass die Plat­te auch als Schalen­stein beze­ich­net wer­den kann. Schalen­steine find­en sich im Raum Bru­neck in größer­er Zahl, bekan­nt sind vor allem jene im Lärchen­wald bei Luns, einem Weil­er der Frak­tion Dieten­heim. Paul Tschurtschen­thaler ver­mutete, dass der St. Geor­gen­er Stein in vorchristlich­er Zeit als Opfer­stätte gedi­ent und kul­tische Bedeu­tung gehabt haben kön­nte, was auch seine unmit­tel­bare Nähe zur Kirche nahe lege.[6] Bei der Innen­restau­rierung der Pfar­rkirche im Jahr 1978 wur­den tat­säch­lich Stein­bo­den und Mauer­reste ein­er roman­is­chen Kirche sowie prähis­torische Stein­plat­ten freigelegt, die auf ein hohes Alter des Ortes als Kul­tort schließen lassen.[7]

Die Schalen auf dem sog. Gerichtsstein. Foto: Stadtarchiv Bru­neck, 2015

Mengh­in aber richtete in einem Beitrag in der Südtirol­er Kul­turzeitschrift Der Schlern 1925 sein Augen­merk mehr auf die Beze­ich­nung Gerichtsstein, die beweisen würde, dass für die Plat­te in St. Geor­gen noch eine volk­stüm­liche Über­liefer­ung über den ehe­ma­li­gen Zweck vor­liege. Das karolingis­che Reich wäre in Graf­schaften, und diese wiederum wären in Gerichtsspren­gel aufgeteilt gewe­sen. In diesen Gerichtsspren­geln wäre das „echte“ oder „unge­botene“ Ding gepflegt wor­den, das heißt die regelmäßige (nicht eigens aus­geschriebene) Gerichtsver­samm­lung, die mehrmals im Jahr stat­tfand und von jedem mündi­gen Freien besucht wer­den musste. Jed­er Gerichtsspren­gel ein­er Graf­schaft besaß – laut Stand der recht­shis­torischen Forschung in den 1920er Jahren – seine Ding- oder Mal­statt, und an den ver­schiede­nen Dingstät­ten der Graf­schaft wurde abwech­sel­nd das Ding gehal­ten.[8]

Als schriftlich­er Beweis für die Funk­tion des St. Geor­gen­er Steines als Ding- bzw. Gerichtsstätte wird seit Mengh­in ein Ein­trag in den Freisinger Tra­di­tions­büch­ern zitiert, der die Schenkung zwis­chen dem Puster­taler Adeli­gen Kegio und dem Stift Innichen belege. Als Ort und Zeit des Rechts­geschäftes ist angegeben: „Actum est in pub­li­co plac­ito prope eccle­si­am Sanc­ti Georii [sic!]“. Das „in pub­li­co plac­ito“ ist dabei wohl am ehesten mit „an der öffentlichen Gerichtsstätte“ bzw. „am offe­nen Gericht“ zu über­set­zen.[9] Ob es sich bei der erwäh­n­ten Kirche aber tat­säch­lich um jene von St. Geor­gen han­delt, bedarf noch weit­er­er Forschung.

Bere­its in karolingis­ch­er Zeit kön­nte es in St. Geor­gen jeden­falls eine öffentliche Gerichtsstätte gegeben haben, die allerd­ings im 12. und 13. Jahrhun­dert nicht mehr nach­weis­bar ist; die einzige urkundlich gesicherte Schranne (die Gerichtsstät­ten wur­den im bay­erisch-öster­re­ichis­chen Raum vielfach so genan­nt) des Landgericht­es St. Michaels­burg befand sich in St. Loren­zen.[10] Nach­fol­ger der karolingis­chen Gerichtsver­fas­sung waren im bay­erisch-öster­re­ichis­chen Rechts­ge­bi­et die spät­mit­te­lal­ter­lichen Landgerichte, deren Spren­gel sich laut Mengh­in, der sich immer wieder auf den Recht­shis­torik­er Otto Stolz (1881–1957) beruft, im 13. Jahrhun­dert noch weit­ge­hend mit den karolingis­chen Spren­geln deck­ten. Während es bis dahin eine bemerkenswerte Kon­ti­nu­ität in der Recht­sprechung gegeben hat­te, wur­den nach dem Erlass der Zivil­gericht­sor­d­nung von 1481 und der Krim­i­nal­gericht­sor­d­nung von 1499 die Gerichtsver­hand­lun­gen zunehmend unter Auss­chluss der Öffentlichkeit, d.h. in den Rats‑, Gerichts- und Pfleghäusern geführt. Die alten Gerichtsstät­ten aber blieben bis in das 19. Jahrhun­dert hinein Schau­platz für die Erledi­gung gewiss­er Agen­den der gemeindlichen Selb­stver­wal­tung.[11]

Der soge­nan­nte Palm­stein an der Dieten­heimer Straße mit ein­er Darstel­lung der Flucht nach Ägypten (19. Jh.?) auf der Stele. Foto: Stadtarchiv Bru­neck, 2018

Schran­nen­tis­che und –bänke waren meis­tens wohl aus Holz. Nur in Fällen, in denen sie aus Stein gefer­tigt waren, haben sich die Schran­nen teil­weise bis heute erhal­ten. Mengh­in ver­mutet fol­glich, dass es sich bei dem Gerichtsstein von St. Geor­gen um einen Schran­nen­tisch han­delt, der ursprünglich vielle­icht auf einem gemauerten Fuß lag.[12] Her­mann Wopfn­er (1876–1963) ver­mutet hinge­gen in einem kurzen Kom­men­tar zu Mengh­ins Aus­führun­gen, „daß der Vor­sitzende des Gerichts auf den Stein trat, um von erhöhter Stelle aus die Ver­samm­lung bess­er überblick­en und leit­en zu kön­nen und um ander­seits der ganzen Ver­samm­lung sicht­bar zu sein und sich ihr leichter vernehm­lich machen zu kön­nen.“[13] Paul Tschurtschen­thaler wiederum geht davon aus, dass der Stein dem Richter als Sitzgele­gen­heit diente.[14]

Entschuldigungs-Karte für Bru­neck 1837. Stich nach ein­er Zeich­nung von Franz Xaver Schweighofer, Ver­lag Wag­n­er­sche Buch­hand­lung Inns­bruck 1837. Lan­des­bib­lio­thek Dr. Friedrich Tess­mann, G‑1050. Cre­ative Com­mons Lizen­zver­trag 4.0.

Da die Posi­tion des Steines erst­mals in den 1920er Jahren und danach im Zuge der Neugestal­tung des Kirch­platzes in den Jahren 2012/2013 verän­dert wurde, ohne dass bei diesen Arbeit­en archäol­o­gis­che Sondierun­gen und Doku­men­ta­tio­nen durchge­führt wur­den, ist das ursprüngliche Ausse­hen der ver­meintlichen Gerichtss­chranne nicht mehr rekon­stru­ier­bar. In Hin­blick auf das Ergeb­nis ein­er – wenn auch rudi­men­tären – archäol­o­gis­chen Unter­suchung des Palmsteins an der Dieten­heimer Straße in Bru­neck, die kein­er­lei nen­nenswerte Ergeb­nisse zutage förderte[15], ist das ursprüngliche Vorhan­den­sein eines Tis­ch­fußes oder gar von Schran­nen­bänken in diesem Fall wohl auszuschließen. Hier ist allerd­ings der Ein­wand Tschurtschen­thalers zu beacht­en, der für die Steine in St. Geor­gen und Bru­neck unter­schiedliche Funk­tio­nen annimmt: Während er für St. Geor­gen die Inter­pre­ta­tion als Schran­nen­tisch gel­ten lässt, ver­mutet er für den Stein in Bru­neck eher die Funk­tion als Deck­el bzw. Deck­stein für ein Grab eines „bedeu­ten­deren Mannes“, wofür auch die räum­liche Nähe des Flur­na­mens „Him­mel­re­ich“ spreche. In diesem Fall wäre auch eine Ver­wen­dung als Opfer­stein (auch dieser Stein ist ein Schalen­stein) nicht aus­geschlossen.[16] Der Stein am Weg nach Dieten­heim wird übri­gens in ein­er Urkunde aus dem Jahr 1506 nicht als Palm‑, son­dern als Pall­stayn beze­ich­net.[17]

Zulet­zt sei darauf hingewiesen, dass Otto Stolz die Erwäh­nung eines weit­eren „Pall­stein“ zitiert, der „[a]uf dem Weg, der von Ste­gen gen St. Geor­gen zum Ziegel­stadl im Rien­zfeld und von dan­nen gen Aufhofen geht“, lag.[18] Dieser Stein habe die Jahreszahl 1551 getra­gen. In ein­er Urkunde von 1578 ist die Rede von einem Loech, gen­nant daß Stain­pild. Der Stein, von dem heute jede Spur fehlt, ist auf der gemal­ten Über­sicht über die Stadt Bru­neck und ihre Umge­bung aus dem Jahr 1581, die heute im Fer­di­nan­deum auf­be­wahrt wird, dargestellt. Fern­er wird er in mehreren Urkun­den aus der Zeit zwis­chen 1451 und 1578 als Palkch­stain, Palch­stain, Pal­gk­stain, Pal­g­stein, Pal­len­stein, Pallnstain, Pallm­stain und Palm­stain beze­ich­net.[19] Da es sich hier offen­bar immer um densel­ben Stein han­delt, ver­wun­dert die unter­schiedliche Schrei­bung des Namens, welche die oben ange­führte Erk­lärung des Wortes Palm­stein fraglich macht. Eine Flur Pal­gstain gab es auch in Ober­rasen[20], ein Ack­er in Pfalzen wurde 1332 als “zwis­chen dem Kreuze und dem palich­stain” liegend beschrieben.[21]

(ao)


Anmerkungen

[1] Oswald Mengh­in, Alte Gerichtssteine bei Bru­neck, in: Der Schlern, 6. Jg. (1925), 108.

[2] Hel­mut Stampfer (Hg.), Bauern­höfe in Südtirol. Bestand­sauf­nah­men 1940–1943, Band 11: Mit­tleres Puster­tal, Teil 1: Pfalzen, St. Loren­zen, Bru­neck, Bozen 2017, 459, 467.

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] Paul Tschurtschen­thaler, Nachträge über „Alte Gerichtssteine bei Bru­neck“ von Dr. O. Mengh­in, in: Der Schlern, 6. Jg. (1925), 193. Franz Trey­er erwäh­nt die Namen “Der lange und kurze Palm­stein (= Gren­zstein)” als nicht mehr gebräuch­liche Flur­na­men in St. Geor­gen: Franz Trey­er, Die Flur­na­men in der Katas­tral­ge­meinde St. Geor­gen und Giss­bach, in: Michael Mit­ter­hofer (Hg.), St. Geor­gen an der Ahr im Spiegel sein­er Geschichte, Dorf­buch, St. Geor­gen 1985, 237–240, hier 240.

[6] Ebd.

[7] Georg Schraf­fl, Aus der geschichtlichen Ver­gan­gen­heit von St. Geor­gen, in: Michael Mit­ter­hofer (Hg.), St. Geor­gen an der Ahr im Spiegel sein­er Geschichte. Dorf­buch, St. Geor­gen 1985, 29–72, 35.

[8] Oswald Mengh­in, Alte Gerichtssteine bei Bru­neck, in: Der Schlern, 6. Jg. (1925), 108f.

[9] Anton Mau­r­er, In pub­li­co plac­ito, in: Der Schlern, Bd. 29 (1955), 392.

[10] Oswald Mengh­in, Alte Gerichtssteine bei Bru­neck, in: Der Schlern, 6. Jg. (1925), 112.

[11] Ebd., 110.

[12] Ebd., 112.

[13] Her­mann Wopfn­er, Bemerkun­gen zum Auf­satz O. Mengh­ins über „Alte Gerichtssteine bei Bru­neck“, in: Der Schlern, 6. Jg. (1925), 193f., 194.

[14] Paul Tschurtschen­thaler, Nachträge über „Alte Gerichtssteine bei Bru­neck“ von Dr. O. Mengh­in, in: Der Schlern, 6. Jg. (1925), 193.

[15] Paul Tschurtschen­thaler, Der Palm­stein im Bru­neck­er Feld und andere Palm­steine, in: Der Schlern, 15. Jg. (1934), 164–167, 164, 167.

[16] Ebd., 166.

[17] Stadtarchiv Bru­neck, Urkun­den­rei­he Nr. 221. Johann N. Tin­khauser bezeugt für das 19. Jh. den Namen “Palm­stein”: Hubert Stem­berg­er (Bearb.), J.N. Tinkhauser’s Bru­neck­er Chronik 1834. “Geschichtliche Nachricht­en von der k.k. Kreis­stadt Bru­neck und der­sel­ben Umge­bung”. Mit 147 Fak­sim­i­le-Farb­druck­en nach den Vor­la­gen des Ver­fassers, Bozen 1981, 34. Tin­khauser geht hier auch auf den Namen “Him­mel­re­ich” ein.

[18] Otto Stolz, Poli­tisch-his­torische Lan­des­beschrei­bung von Südtirol (Schlern-Schriften 40), Bozen 1937, 585.

[19] Vgl. Eri­ka Kus­tatsch­er (Bearb.), Die Urkun­den des Archivs Künigl-Ehren­burg (1234–1550) (Veröf­fentlichun­gen des Südtirol­er Lan­desarchivs 4), Bd. 2: Reg­is­ter, Ein­trag Palkch­stain […], S. 741. Stadtarchiv Bru­neck, Urkun­den­rei­he Nr. 383 (1578 Juni 24): ain stuckh gen­nant der Pallnstain.

[20] Vgl. Alexan­der von Hohen­bühel / Philipp Tol­loi (Bearb.), Südtirol­er Lan­desarchiv: Archiv Welsperg Nieder­rasen, Bozen 2017, S. 741.

[21] Tschurtschen­thaler, Palm­stein (wie Anm. 15), 165.


Bil­dungsauss­chuss St. Geor­gen / Frak­tion St. Geor­gen / Fotogruppe St. Geor­gen: Jergina erzählen: Pater Georg Schraf­fl (Gerichtsstein, Kind­heit & Geschichtlich­es).

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