Die Stadt Bruneck wurde im Jahr 1298 erstmals als oppidum, d.h. als befestigter Platz bezeichnet. 1295 ist der Begriff urbs, also Stadt, belegt. Stadt bezeichnete im Mittelalter immer einen ummauerten Ort. Wir wissen, dass unter den Brixner Bischöfen Johann II. Sax und Albert von Enn am Anfang des 14. Jahrhunderts Burg und Stadt in Bruneck verstärkt ausgebaut wurden. Der Bischof Ulrich Putsch setzte diese Bautätigkeit im 15. Jahrhundert fort.
Die Kernstadt präsentiert sich heute mehr oder weniger in ihrem Zustand am Beginn der frühen Neuzeit. Die Stadtmauern sind noch erhalten, allerdings wurden sie vielfach durchbrochen, als sie durch das Aufkommen von Schießpulver und Feuerwaffen zunehmend ihre Verteidigungsfunktion verloren hatten. Zwei Rundtürme, die ursprünglich im Graben an der Nordseite der Stadt im Wasser gestanden hatten, wurden abgebrochen, ebenso verschwand das fünfte Stadttor, das dem unteren Tor vorgelagert war und den eigentlichen Eingang in die Stadt für alle darstellte, die von Westen, also von St. Lorenzen, kamen. Einen größeren Eingriff in die Bausubstanz stellte auch die Errichtung des Ursulinenklosters im 18. Jahrhundert dar. Die Ursulinen hatten 1741/42 nach einer längeren Auseinandersetzung mit der Bürgerschaft in Bruneck Einzug gehalten und ab 1744 am westlichen Ende von Stadtgasse und Graben ein Kloster samt Mädchenschule errichtet, wofür mehrere Häuser und die Neukirche zu einem Klosterkomplex zusammengefasst wurden.
Von der Burg abwärts liefen zwei Mauerzüge, die sich unten als Stadtmauern fortsetzten, sodass die Burg mit der Stadt zu einer strategischen Einheit verbunden war. Drei Gräben umgaben die Kernstadt, der untere Graben, der Zwingergraben und der Pfeffergraben.
Der Zwingergraben war wohl immer trocken, während der untere Graben mit Lehm ausgekleidet und mit Wasser gefüllt war, was sich bei archäologischen Ausgrabungen gezeigt hat.[1] Das Auffüllen des Grabens in den 1830er Jahren führte schließlich zum Entstehen einer Verkehrsfläche, wie wir sie heute noch kennen.
Der Zwingergraben oder Zwinger hingegen wurde nie zur Verkehrsfläche, sondern lag in einem Dornröschenschlaf, d.h., es passierte hier über Jahrhunderte hinweg nicht viel. Die gravierendste Umgestaltung erhielt dieser Teil des Grabens erst im 20. Jahrhundert durch die Errichtung des Schulbaues der Ursulinen in den Jahren 1908 und 1909. An die Stadtmauer war vorher das sogenannte Wegerhaus angebaut gewesen (Abbildung 2).
Der Zwingergraben bot Menschen, die in der relativ engen Stadt wohnten und dort keinen freien Grund hatten, die Möglichkeit, Gärten zu erwerben oder zu pachten und Gemüse, Obst und Kräuter anzubauen. Alte Katasterpläne geben Auskunft über die ursprüngliche Lage dieser Gärten (Abbildung 3). Sie stammen zwar aus dem 19. Jahrhundert, andere Quellen lassen aber darauf schließen, dass sich die Situation im Laufe der Jahrhunderte nicht wesentlich verändert hat. Interessant ist, dass neben den Gartenparzellen auch ein Brunnen samt Zufluss eingezeichnet ist. Reimo Lunz schreibt, dass bereits 1560 mit Bewilligung des Stadtrates im Zwinger Gärten und ein neuer Brunnen angelegt worden seien, wofür die Inhaber*innen bzw. Pächter*innen der Gärten einen jährlichen Zins an die Stadtkasse abliefern mussten.[2]
Schon auf der ältesten erhaltenen Darstellung der Stadt Bruneck aus dem Jahr 1581 sind die Gärten als umzäunte Parzellen zwischen der Stadtmauer und dem Weg nach Reischach eingezeichnet. Der Bereich außerhalb der Stadt bildete gewissermaßen eine Zwischensphäre zwischen Stadt und Land. Ob ein Fußweg von der Burg herunterführte, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden, auf der Ansicht von 1581 ist – wie auch auf späteren Darstellungen des Ortes – kein Weg eingezeichnet.
Die Gärten im Zwinger finden wir in den Protokollen der Sitzungen des Stadtrates immer wieder erwähnt, es geht darin um die Übergabe einzelner Einheiten an Bürger und Inwohner der Stadt. Die Rede ist dabei immer von Krautgärten oder Kreitlgärten, was die zeitübliche Bezeichnung für Gemüse- und Kräutergärten war.
- Im Ratsprotokoll vom 21. August 1693 findet sich beispielsweise der Hinweis, dass Bartlmee Pälhueber und die Paul Mayrhoferischen Eheleute um ein halbes Haus beim untersten Stadttor samt dem daran anstoßenden Kreitlgärtl verhandelten. Pälhueber hatte bereits der Appolonia Seyrin, Ehefrau des Christoph Pleismayr, ein Khreitl Gärtl im Zwinger in der driten Zeil verkauft. Hierin zeigt sich, dass die Gärten in mehreren Zeilen, also Reihen, angelegt waren, wie es auch die gezeichneten Pläne bestätigen.
- 1698 erfahren wir bei einem Kauf den Namen eines Gartens, es war nämlich ein halber Garten der Ölperg gehaisen und im Zwinger gelögen. Die Bezeichnung Ölberg kommt hier nur einmal vor und ist auch sonst für Bruneck nicht belegt, es handelt sich also um einen interessanten, nur schriftlich dokumentierten Flurnamen.
- 1670 bat Valtin Hölzl um die Ausstöckhung eines Gartens im Zwinger, das bedeutet entweder, dass er um die Zuweisung eines bereits bestehenden Gartens ansuchte, oder aber dass er einen Garten neu anlegen wollte. Im Ratsprotokoll heißt es dazu, dass der Bürgermeister bereits zum Augenschein vor Ort gewesen sei. Der Garten könne jetzt gegen Gebühr ausgesteckt werden, da auch die Nachbarschaft keine Bedenken angemeldet habe.
- 1671 suchte Lucas Marchner, Schreiber am fürstbischöflichen Amtsgericht in Bruneck, an, dass der Kauf eines Gärtl im Zwinger genehmigt würde. Von der Gemain wollte er zudem ein Schraitprait einfangen, d.h. den Garten um ein Schrittbreit vergrößern. Der jährliche Zins für diesen erweiterten Garten erhöhte sich dadurch von zwölf auf 15 Kreuzer. Hierin ist ein Hinweis zu sehen, dass die Gärten von der Gemein, also vom Grund der Allgemeinheit umgeben waren, der etwa zum Hüten von Kleinvieh allen Einwohnerinnen und Einwohnern von Bruneck zur Verfügung stand.
- 1700 ist die Rede von einem Garten im Zwinger, der an die Rinkhmaur und ein Rondell angrenzte. Mit Rondell könnte der Halbrundturm im Zwingergraben gemeint sein, den es nach wie vor gibt. Auf den historischen Karten ist zu sehen, dass die Gärten bis ganz an die Mauer und an diesen Turm heranreichten.
- 1729 suchten Peter Hueber von Reischach und der Brunecker Tagwerker Sebastian Oberhamber um die Genehmigung ihres Kaufs eines Viertelhauses samt Stall, Heuschupfe und Krautgarten im Zwinger an. Hier zeigt sich, dass der Garten gewissermaßen als fester Bestandteil einer Wohnstätte in der Stadt galt und den Hausbesitzenden die Möglichkeit der Selbstversorgung mit Gemüse, Kräutern und kleineren Früchten (Beeren) bot. 1740, als Peter Nökhler aus St. Georgen um die Ratifizierung seines Kaufs eines halben Hauses auf dem Pallenplatz, also dem Ballenplatz in der Stadt, samt einem Khreitlegärtl im Stattzwinger bat, zeigte sich dasselbe Muster. 1742 suchte Joseph Schreiber aus Antholz an, als Inwohner und Tagwerker aufgenommen zu werden, da ihm sein Vater ein halbes Heisl auf dem Ballenplatz und gleich zwei Khreitle Gärtlen in Zwinger überlassen hatte.
An diesen Beispielen aus den Ratsprotokollen zeigt sich, dass zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert tatsächlich immer wieder das Toponym Zwinger verwendet wurde, wenn von dem Grünstreifen zwischen der Stadtmauer und dem Schlossberg bzw. dem Reischacher Weg die Rede war. Der Begriff Zwinger bezeichnete im Mittelalter und in der frühen Neuzeit den „raum zwischen der niederen vor- und der hohen stadt- oder burgmauer, de[n] äuszere[n] burghof“, also einen zwischen zwei Mauern gelegenen Hof.[3] Als Zwinger in diesem Sinn kann somit der ursprüngliche Eingang zur Stadt von Westen gesehen werden, der im Zuge der archäologischen Grabungen am Paul-Tschurtschenthaler-Platz aufgedeckt wurde. Der eigentlichen Stadtmauer war dort eine zweite Mauer vorgelagert. Im Zwingergarten hingegen fehlt diese zweite Mauer, allerdings erfüllte der Abhang hin zur Straße eine gewisse Abwehrfunktion und rechtfertigt deshalb die Bezeichnung.
Neben den Ratsprotokollen sind die Urbare der Stadt eine interessante Quelle zur Geschichte der Gärten. In diesen Büchern wurde jährlich aufgelistet, wer aus welcher Parzelle wie viel Zins zu zahlen hatte und wem die Gärten gehörten (Abbildung 4). Im Brunecker Urbar für das Jahr 1807 sind die Gärten dabei zu Gruppen zusammengefasst: vom kleinen Thürl bis zum Scheiblinger Thurn; ober dem Scheiblinger Thurn; in der mittern Zeilen oben herabwerts; vom kleinen Thürl an gegen der Bruggen und gegen den Berg, auf der Höche gegen den Schlosß und auf der Höche bei dem Kalchofen. Mit dem kleinen Thürl ist wohl ein heute nicht mehr vorhandener Durchgang zu den Gärten gemeint, mit dem Scheiblinger Thurn der Halbrundturm an der Mauer. In einem Fall ist im Urbar die Rede von einem Garten, der (wohl temporär) als Wiese genutzt wurde, öfters finden sich Hinweise auf Gartenparzellen, die zu größeren Stücken zusammengefasst wurden. Der Stadtgerichtsdiener hatte einen eigenen Garten, der dem Stadtgericht gehörte, der Ratsdiener ein der Stadt gehöriges Stück über.
Insgesamt sind 66 Gärten aufgezählt, aus denen 1807 vergleichsweise bescheidene 11 Gulden und 7 Kreuzer gezinst wurden. In der Aufzählung der Zinsenden findet sich beinahe die gesamte Einwohnerschaft der Stadt gespiegelt: vom Wegmacher über den Bäckermeister und den Büchsenmacher über den Sonnenwirt bis zu den Erben des Felix von Mayerhofer, den Ratsdiener und den Chirurgus (Wundarzt) waren fast alle sozialen Schichten vertreten. Einen Garten im Zwinger konnten sich also – wenn auch nicht alle – so doch viele leisten. Sie fanden hier nicht nur die Möglichkeit vor, sich mit Vitaminen zu versorgen, sondern auch Gelegenheit, der oftmals düsteren Enge der Stadt zu entfliehen und frische Luft, Licht und Sonnenschein zu genießen.
In den Akten des Stadtmagistrats aus dem 19. Jahrhundert finden sich weitere Hinweise auf die Gärten im Zwinger. 1841 etwa verkauften der Brixnerbote Georg Harrasser, Urban Lusser und der Sonnenwirt Johann Stemberger ihre Stücke an die Stadt Bruneck, da sie aufgefüllt und planiert werden sollten. Es ist allerdings nicht ganz klar, ob sich dieser Hinweis auf den Zwingergraben oder aber auf einen anderen Teil des Stadtgrabens bezieht.
Etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bot ein neues Medium die Möglichkeit, Landschaft abzubilden: die Fotografie. Die Gärten im Brunecker Zwinger wurden in der Zeit um 1900 von verschiedenen Fotografen in beeindruckender Weise im Bild festgehalten. Damit verfügen wir über einige äußerst wertvolle Zeugnisse über das frühere Aussehen der Stadt, vor allem aber die verschiedenen Krautgärten und deren bisweilen recht üppiges Grün.
In den schriftlichen Quellen ist der Zwinger ein letztes Mal im Jahr 1899 erwähnt, als der Tierarzt Walsthöny ein Stück Grund aus städtischem Besitz erwarb. Um die Lage dieser Parzelle zu veranschaulichen, wurde ein Plan gezeichnet, der einen Zwingerweg und einen Klosterweg auf der Fläche des späteren Paul-Tschurtschenthaler-Parks ausweist (Abbildung 5). Auch wenn der Zwinger seine Funktion als Teil der Stadtbefestigung längst verloren hatte, war er somit zumindest im Namen Zwingerweg bis an die Wende zum 20. Jahrhundert erhalten geblieben. Auch hier, vor dem unteren Stadttor (Ursulinentor), wurde die Tradition der Begrünung des den alten Ringmauern vorgelagerten Terrains noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein fortgeführt.
[1] Vgl. Reimo Lunz, Archäologische Streifzüge durch Südtirol, Band 1: Pustertal und Eisacktal, Bozen 2005, S. 107–109.
[2] Lunz, Streifzüge, S. 105–106.
[3] Zwinger, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, <https://www.woerterbuchnetz.de/DWB>, abgerufen am 03.05.2024.